Es gibt Orte, die bleiben. Nicht weil sie spektakulär wären oder weil man sich später gerne an sie erinnern würde. Sie bleiben, weil sie zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas bedeutet haben. Weil sie Teil einer Geschichte waren, die man mit jemandem geteilt hat, der nicht mehr da ist.
Der Tag im November 2016 war so einer. Ein Mittwoch in Köln, an dem die Temperaturen um den Nullpunkt herum schwankten. Ein kalter Novembertag mit klarem Himmel. Die Art von Tag, an der man den Atem vor sich sieht und sich fragt, warum man überhaupt nach draußen gegangen ist.
Und doch war ich dort. Mit Joachim. Einen Tag, der mir heute kostbarer erscheint als jeder warme Sommertag.
Persönliche Erlebnisse
Joachim und ich standen an diesem Nachmittag auf einem kleinen Parkplatz in Köln-Deutz, unweit der Messehallen. Das kalte Licht des Novembers lag über der Stadt, scharf und ohne Wärme. Es war die Art von Kälte, die in die Knochen geht, die einen zum Zittern bringt, wenn man zu lange stillsteht. Und doch wollten wir nicht weg von diesem Ort.
Das Besondere an diesem Platz war nicht der Parkplatz selbst, sondern das, was dahinter lag: eine Backsteinwand, deren rötliche Farbe unter dem klaren Himmel intensiv wirkte. Über sie zogen sich weiße Parkplatzmarkierungen wie ein surreales Kunstwerk – geometrisch präzise, absurd schön. Vertikale Parkplätze, auf denen niemals ein Auto stehen würde.
Die Luft roch nach Stadt, nach feuchtem Asphalt und nach dem nahenden Winter. Das Industriegebiet um uns herum war ruhig an diesem Tag, nur das Rauschen vereinzelter Autos in der Ferne. Es war einer dieser Momente, in denen die Welt plötzlich anders wirkt, wenn man sie mit jemand anderem betrachtet.
Joachim lachte, als er es sah. Dieses herzhafte Lachen, das ich so gut kannte, das sich anfühlte wie Heimat. „Parkplätze an der Wand”, sagte er grinsend und schüttelte den Kopf. „Nur in Köln.” Er hatte diese einzigartige Art, das Absurde zu entdecken und darüber zu lachen, ohne es zu verurteilen. Es war eine seiner Eigenschaften, die mich immer wieder erstaunte. Diese Fähigkeit, die Dinge leicht zu nehmen, ohne sie dabei zu bagatellisieren.
Das Licht war an diesem Tag grell, fast unwirklich. Der tiefblaue Himmel bildete einen starken Kontrast zu der rötlichen Backsteinwand. Oben auf dem Mast thronte ein Parkplatzschild mit der Aufschrift „Künstler”. Wir machten Fotos, alberten herum, diskutierten über die Bedeutung von Kunst im öffentlichen Raum. Joachim war während dieser Diskussionen immer voller Leidenschaft, immer neugierig, immer bereit, noch eine Ebene tiefer zu gehen.
Joachim bedeutete mir weit mehr als nur ein Freund. Er war Familie, auch wenn wir nicht verwandt waren. Wir hatten viel Zeit miteinander verbracht. Gemeinsam haben wir viel von der Welt gesehen, gemeinsam gelacht, aber auch ernste Dinge miteinander besprochen. Ein wahrer Gefährte in allen Lebenslagen, mit einem Herzen so groß, dass es sich gar nicht wirklich beschreiben lässt.
Nach diesem Nachmittag auf dem Parkplatz sollte noch so viel Zeit folgen. Wir waren nicht fertig mit unseren Entdeckungen. Die Welt war noch lange nicht zu Ende für uns, und Joachim und ich hatten noch so viel vor. Bis zum Ende, bis zu seinem letzten Tag, waren wir zusammen unterwegs. Diese finale gemeinsame Periode machte all die vorherigen Abenteuer noch bedeutsamer – denn wir wussten nie, dass es die letzte Phase sein würde.
Die Macht der geteilten Momente
Gemeinsame Erlebnisse schaffen eine Basis, die über den gegenwärtigen Augenblick hinausreicht. Sie werden zu Ankerpunkten in unserem Leben, zu Geschichten, die wir immer wieder erzählen, zu Erinnerungen, die zwei Seelen miteinander verbinden.
Joachim und ich hatten unzählige solcher Erlebnisse geteilt. Reisen, auf denen wir gemeinsam Neues entdeckt hatten. Freundschaften leben von solchen Augenblicken. Sie schaffen Vertrauen, vertiefen das gegenseitige Verständnis und geben uns das Gefühl, wirklich verstanden zu werden. Wenn wir gemeinsam lachen, gemeinsam staunen oder gemeinsam etwas Neues entdecken, entstehen Erinnerungen, die uns auch dann noch verbinden, wenn die Zeit des Beisammenseins vorbei ist.
Der Parkplatz mit seinen vertikalen Markierungen war so ein Moment. Absurd, lustig, vollkommen einzigartig.
Geschichte und Hintergründe
Der Ort unserer Entdeckung an jenem Novembertag hatte seine eigene Geschichte. Der Parkplatz gehörte zum KunstWerk Köln, einem der größten selbstverwalteten Atelierhäuser Deutschlands. Das KunstWerk befindet sich an der Deutz-Mülheimer Straße 127 in Köln-Deutz, in einem ehemaligen Fabrikgebäude der Kölnischen Gummifädenfabrik aus dem Jahr 1864.
Die vertikalen Parkplätze an der Brandmauer waren 2006 im Rahmen des Kölner Architekturprojekts „plan06″ entstanden. Sie waren das Werk der internationalen Künstlergruppe osa (office for subversive architecture).
Die Künstler des KunstWerks hatten ein praktisches Problem. Sie mussten teure Parkplätze für eventuelle Besucher anmieten, obwohl diese kaum genutzt wurden. Die osa-Künstler lösten das Dilemma, indem sie die bestehenden Parkplatzmarkierungen einfach auf die angrenzende Brandmauer erweiterten. Vertikale Parkplätze, die zwar der Norm entsprachen, aber physisch nicht nutzbar waren. Die Stadtverwaltung musste feststellen, dass es keine Regelungen für vertikale Parkplätze an Brandmauern gab.
Der erste Todestag
Genau ein Jahr später, am 30. November 2017, war Joachim schon nicht mehr da. Ein Jahr, das in meinem Kalender zwei Punkte markierte: den 30. November 2016 und den 30. November 2017. Anfang und Ende, oder das, was die Welt dafür hielt.
Ich kann nicht abstreiten, dass ich lange benötigt habe, um loszulassen. Und wirklich daran gewöhnen werde ich mich wohl niemals.
Einen Menschen zu verlieren, der einem viel bedeutet, ist niemals leicht, und jeder, der behauptet, darauf vorbereitet zu sein, lügt oder hat absolut keine Ahnung, was einen erwartet. Ich wusste es auch nicht, bis es soweit war. Aber leider ist dies nun mal der Lauf der Dinge. Selten kündigt sich ein solcher Moment vorher an.
Der erste Todestag ist eine besondere Herausforderung. Er macht bewusst, wie viel Zeit vergangen ist und gleichzeitig, wie frisch der Schmerz noch ist. Alle Gefühle, die man am Tag des Todes erlebt hat, kommen wieder hoch. Die Trauer, die Verzweiflung, aber auch die Dankbarkeit für die vergangenen Tage.
An diesem ersten Todestag dachte ich an all unsere Abenteuer. An Joachims Lachen über die absurden Parkplätze an der Wand. An seine Begeisterung für das Ungewöhnliche. An die Selbstverständlichkeit, mit der wir bis zum Schluss miteinander unterwegs waren. Und daran, dass er präsent war. Bis zum letzten Moment. Bis zum Ende.
Erinnerungen sind das, was bleibt, wenn ein Mensch nicht mehr da ist. Sie sind kostbarer als jedes materielle Andenken, weil sie die Essenz einer Beziehung bewahren. Die geteilten Erlebnisse, die Augenblicke, die Gespräche – all das lebt in der Erinnerung weiter.
Der Parkplatz am Ende der Welt ist für mich so ein Andenken geworden. Nicht nur an einen besonderen Ort, sondern an einen besonderen Menschen.
Die Kunst des Gedenkens liegt nicht darin, den Schmerz zu vergessen, sondern die Freude zu bewahren. Die Erinnerungen an die Zeit mit einem verstorbenen Menschen sind das wertvollste Vermächtnis, das er uns hinterlassen kann. Sie erzählen davon, wer er war und was er für uns bedeutet hat.
Somit wollte ich an seinem ersten Todestag ihm diesen Beitrag widmen, bevor ich zu seinem Grab fahre und eine Kerze anzünde.
Das Schöne an echten Bindungen ist, dass sie nicht mit dem Tod endet. Sie lebt weiter in den Erinnerungen, in den Erzählungen, die wir erzählen, in den Orte, die wir miteinander entdeckt haben. Der Parkplatz am Ende der Welt ist so ein Ort. Ein Ort, an dem Zeit und Erinnerung still stehen.
Doch irgendwann sehen wir uns bestimmt wieder.
Auf einem Parkplatz am Ende der Welt.
Quellen
Informationen zum Kunstprojekt und Ort
- https://plusinsight.de/2013/03/anwohnerpark-kunstwerk-koeln-2006-von-osa-office-for-subervise-architecture_plan06/
- http://bluebayou.co/so-war-das-erste-reisehalbjahr-2017/fotoparade-koln-messe-presseparkplatz-kunstlerparkplatz-wand/
- https://www.kreative-produktionsstaedte.de/best-practice-beispiele/nordrhein-westfalen/kunstwerk-koeln.html
- http://www.kunstwerk-koeln.de/de/
- https://www.usarch.de/uploads/media/pdf/0001/01/7118ed25d33f880fc5af354c2c191af15106570f.pdf
- https://plusinsight.de/tag/design-thinking/
- https://www.droog.com/projects/urban-play-by-office-for-subversive-architecture-osa/
- https://www.kunstplaza.de/street-art/urban-art-form-des-protests/
Eigene Dokumentation
- Fotografische Aufnahmen vom 30. November 2016
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